Ein Freund

„Guter Freund“, „Bester Freund“, „Echter Freund“ …. gibt es das? Wann steht es einem zu, so einen Titel zu vergeben oder zu erhalten? Fakt ist lediglich, dass Stefanos Bruder Alessandro einige Jahre für mich einem besten Freund am nächsten kam oder einfach das war. Und im Verlauf dieser Jahre wurde auch Stefano für mich ein Freund, ob er es wollte oder nicht. Dies hing auch selbstverständlich mit dem Umstand zusammen, dass Stefano dann das Pinocchio eröffnete. In der kritischen Phase meines Erwachsenwerdens war das Pinocchio meine zweite Heimat; mancher Beobachter würde sogar behaupten, meine erste Anlaufstelle. Ja, wir (außer mir noch ein paar Freunde) waren jeden Abend, an dem Stefano offen hatte, dort. Das begann mit dem Eröffnungstag und ging wirklich recht lange so. Es ist vielleicht seltsam oder komisch aber ich habe unzählige und unbezahlbare Erinnerungen an die vielen Male, als ich bei der Familie Balzarin im Elternhaus, später bei Alessandro und Stefano in deren Wohnungen und schlussendlich am häufigsten im Pinocchio war. Aber Fotos; nein, davon habe ich kein einziges. Weshalb, kann man sich fragen. Ich denke, das hängt mit mehreren Dingen zusammen: als Jugendlicher und junger Erwachsener konnte ich Fotos von mir nicht ausstehen und ich fand es auch nicht erstrebenswert, andere Menschen abzulichten. Dann hatte nicht jeder einfach so eine Kamera und ich hatte auch noch nicht begonnen mich für die Fotografie zu interessieren. Zudem war Stefano, sofern ich mich richtig daran erinnere, zumindest auch kein Riesenfan von Lichtbildern, die ihn zeigten (das ist meine ich vorsichtig ausgedrückt). Deshalb also kein Foto, das ich hier zeigen könnte. Aber viele Erinnerungen und kleine Episoden. Stefano und Alessandro waren keine Freunde von smalltalk und besonders Stefano wirkte sicherlich auf Menschen zunächst, wie soll ich es beschreiben, unnahbar, vielleicht sogar abweisend. Aber wenn man sich die Zeit nahm und versuchte Stefano etwas besser kennen zu lernen, dann merkte man irgendwann, um was für eine Art Mensch es sich handelte. Nämlich um jemanden, den man oder besser ich persönlich auf alle Fälle in die oben angesprochenen Kategorien einordnen durfte. Nicht dass ich besonders auf Kategorien oder irgendwelche künstlichen Einteilungen von Menschen stehen würde. Stefano war jemand, von dem ich wusste, wenn ich Probleme hatte oder auch nur eine Kleinigkeit benötigte, er würde mir helfen. Ohne ein Wort zu verlieren; ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Er war jemand mit dem man sich auch einfach nur mal anschweigen konnte und man trotzdem das Gefühl hatte, man wurde verstanden. Jemand, der einem unverblümt die Meinung sagte und einem so auch manchmal den Spiegel vorhielt und zum Nachdenken anregte. Ein Mensch, der einen unnachahmlichen Humor hatte und mich unweigerlich zum Lachen oder mindestens Grinsen brachte; auch wenn ich kurz vorher noch schlecht gelaunt, traurig oder sonstwas war. Und auf den auch eines meiner wichtigsten Kriterien zutraf, die für mich „echte“ Freunde ausmachen: Aus welchen Gründen auch immer hat man sich eine Ewigkeit nicht gesehen und dann sitzt man sich wieder gegenüber und kann einfach da weitermachen, wo man aufgehört hat. Als dies alles akut war, habe ich nicht weiter darüber nachgedacht. Aber ich wurde älter, „Freunde“ kamen und gingen und man überlegt dann immer, warum das im einzelnen Fall so gelaufen ist; weshalb es einem nicht mehr so zu jemandem hinzieht und dann erkennt man langsam, was die Gründe sind. Auch wenn ich eigentlich nur ein Kunde war (oder maximal ein Freund seines kleinen Bruders), ich habe es immer so wahrgenommen: Stefano hat mich niemals nur als solchen betrachtet. Dennoch kann ich mir nicht anmaßen, Stefano wirklich gut gekannt zu haben. Nur ein paar Dinge weiß ich über ihn. So z.B. die Geschichte wie es dazu kam, dass er sich für Kampfsport interessierte und anfing mit Gewichten zu trainieren. Und in dieser Hinsicht war er dann auch schnell ein Vorbild für mich. Auch wenn ich schon recht früh angefangen hatte, Kraftsport zu machen, habe ich es nie auf dieses Niveau geschafft. Er legte eine Determination, Motivation und eine Leidenschaft an den Tag, die ihresgleichen sucht. Und wenn es dazu kam dass ich zusammen mit ihm trainieren konnte, zog er einen mit wie eine Diesellok mit einem unerschöpflichen Vorrat an Kraftstoff. Hier soll jetzt nicht der Eindruck entstehen, es wäre immer alles Friede, Freude, Eierkuchen gewesen oder es gäbe sowohl von mir als auch von Stefano nur positives zu berichten. Nein, Stefano hatte seine Ecken und Kanten und er war sicherlich in vielen Dingen sehr eigen. Und auch wenn es jetzt lächerlich wirkt, so war Stefano einer von den „Großen“, weil eben drei Jahre älter. Jetzt, mit 47, ist das zu vernachlässigen. Aber wenn der kleine Bruder 16 ist und der ältere Bruder 19, dann sind das Welten. Und so blieb das natürlich; Stefano hing mit den „Großen“, seinesgleichen, rum und ich ging mit meinen Klassenkameraden, ehemaligen Klassenkameraden und Freunden (die allesamt eben gleichalt oder wenig jünger waren als ich) ins Pinocchio. Dennoch, ich schreibe es noch einmal, für mich hat es sich jedes einzelne Mal so angefühlt, als würde ich zu einem Freund gehen. Dann gab es auch Gelegenheiten, wenn auch wenige, wo wir zusammen, außerhalb des Raumes Pinocchio/Wirtschaft, etwas unternahmen wie z.B. eine Runde auf unseren Motorrädern zu drehen. Das war eines der Hobbies, die Stefano und ich gemeinsam hatten. Sicherlich, das ist lange her. Die letzte Erinnerung an Stefano ist aber auch wieder eine, in der wir beide eine „gemeinsame Leidenschaft“ ausübten: Papa sein. Im Supermarkt hatte ich Stefano mit seiner Tochter getroffen und ich meine mein Sohn war auch dabei. Stefano machte in seiner trockenhumorigen Art eine Bemerkung über einen nicht unerheblichen Anteil in meinem Einkaufswagen: irgend etwas mit „Einfachzucker“ sagte er. Da war mir schnell klar, dass Stefano auch seine Rolle als Vater sehr ernst nahm und wirklich versuchte, das Beste für sein Kind anzustreben; in Erziehung und Ernährungsgewohnheiten und sicherlich in allem und immer mit vollem Einsatz und mit Leidenschaft.

Timm